Sigi, ich verstehe dass so, dass Cardillac sich darauf beruft, dass Musik damals (nicht vor 30 Jahren, sondern vor evtl. noch 200 Jahren) keine Kunst, sondern eine Wissenschaft war. Sie wollte nicht gefallen oder ansprechen, sondern vermitteln, abbilden.

Ich denke, dass man da selbst entscheiden kann, ob man sich für eine derart vergeistigte Musik begeistern will um sie "zu lesen", oder sich eher zu denen zählt, die Musik als etwas gefühlsmäßiges betrachten.
Nur weil etwas alt ist, muss es nicht unbedingt das noplusultra sein.Selbst wenn sich eine gewisse Ansicht über evtl. Jahrhunderte gehalten hat. Das ist mit der Vermutung, die Erde sei eine Scheibe so; mit dem Rassismuss oder dem Antisemitismus. Aber auch der Ablasshandel, dass künstliche Dummhalten der Bevölkerung, usw. war bzw. ist nicht der Weisheit letzter Schluss.
Ich meine, dass wenn eine Mucke von 1925 in mir das gleiche hervorrufen kann, wie in meinem Opa damals, dann war sie gut gemacht. Wenn sie -wie z.B. der Techno- jahrelang die Radioprogramme beherrscht, um dann sang und klanglos zu verschwinden, ist klar: das war wohl nix...
Opern usw. sind für mich keine Musik, sondern sinnloses Geschrei, dass auf dem Missverständnis beruht, ein Lied (althochdeutsch für Gedicht) brauche eine Melodie. Klassische Werke von Bach und Konsorten können gut sein, gute Passagen enthalten oder völliger Humbug sein.
Aber dass man da unterschiedlicher Meinung sein kann, dürfte eher ein Beleg dafür sein, dass es sich beim Musikverständnis gerade nicht um eine exakte Wissenschaft, sondern um eine höchst individuelle Wahrnehmung - sprich: eine Gefühlssache handelt.

Musik ist daher für mich eine Kunst, die durchaus Können erfordert, aber keine Wissenschaft, wie die Mathematik, Physik oder Chemie.
Du kannst alle Kniffe der Musik kennen und benennen können - ein Musiker bist Du dadurch nicht. Allenfalls einen dieser Kritiker, die nichts können, aber alles wissen, könntest Du abgeben.
Andersherum kann der Musiker durchaus weder des Schreibens, noch des Lesens mächtig sein und dennoch beeindruckende Musik abliefern - wie Django Reinhardt z.B. (Jazzer -Gitarre-, Roma, mit nur 3 Fingern an der Griffhand)